Blogeintrag geschrieben von Dr. Klaus F. Müller
Seine Interessengebiete sind u. a. Botanik, Technik und lokale Geschichte
Industrialisierung Lahn Dill Gebiet
Zu Beginn der Industrialisierung war es für die Gründergeneration ländlicher Industriebetriebe zunächst nicht üblich aus der Stadt hinaus aufs Land, z. B. nach Sinn zu ziehen.
Für den Empfang von Geschäftspartnern und zur Verwaltung reichte das neben der Gießerei liegende alte Herrenhaus aus. Erst ab 1892 bekannte man sich zum Industriestandort bei Sinn. Mit Bau eines Landhauses sowie des Parkes im Stile der Neorenaissance wurden auch viele neue Moden und Techniken eingeführt, die Auswirkungen auf vorwiegende kleinbäuerliche Struktur des Lahn - Dill -Westerwaldgebietes hatten.
Wandel der Kultur auf dem Lande
Hans v. Trotha* spricht von einer Expansion der städtischen Kultur in den ländlichen Raum. Gerade Sinn (Hessen) hatte mit seinen Industriellenvillen eine Keimzelle nicht nur für Technik und Handel, sondern auch für Kunst und Kultur, die erst im 20. Jahrhundert durch bekannte strukturelle Krisen verschwand. Damals gründete man mit den Bürgern der umliegenden Kleinstädte die sogenannte Mittwochgesellschaft. In diesem eher elitären Zirkel wurden Vorträge gehalten, man kümmerte sich um Musik- und Theatervorstellungen internationaler Künstler im damaligen Dillkreis. Zu den herausragenden sportlichen Veranstaltungen gehörte das Herborner Tennisturnier (Bärenpokal), das internationale Reit- und Fahrturnier sowie die Dillenburger Hengstparade, die im Sinne des heutigen "Sponsorings" von den Industrieunternehmen unterstützt wurden.
Industrieansammlungen führte nicht nur zur Verbesserung einer Infrastruktur (Telefon, Strom, Eisenbahnanbindung), sondern veränderten das soziale Gefüge, in mancher Hinsicht zum Besseren, nachhaltig. Als nicht ganz uneigennützige Sozialleistungen konnten sich große Industriebetriebe wie Haas & Sohn Kinderbetreuung, Krankenkassen, Altersversorgung, bezahlbares Wohnen in Arbeitersiedlungen unter hygienischen Bedingungen und günstiger Einkauf im Hüttenkonsum sowie verbilligtes Mittagessen in Menagerie und Schlafhaus leisten. Davon profitierten auch Handwerk, Gewerbe, Gastronomie etc.
Der Niedergang dieser industriellen wie kulturellen Entwicklung hat einen Umbruch erfahren, den die vielen dörflichen Gemeinschaften und Vereine nur bedingt auffangen konnten. Durch die Coronakrise kamen auch diese wertvollen Beiträge der lokalen Kulturträger zum Erliegen. Daher fordert der bekannte Autor und Journalist v. Trotha in seinen Beiträgen die Gärten zu öffnen, um gerade zu Corona Zeiten die alte Tradition der antiken philosophischen Gespräche in der Natur in neuem Stile wiederaufleben zu lassen.
Landvilla als kulturelles Energiezentrum*
Villa Haas und ihr Landschaftsgarten waren im Frühjahr/Sommer 2020 der ideale Treffpunkt für digitale und soziale Nomaden, die im Verbund mit Co-Working ihren neuen Ideen in der Form von Start-Ups in einer digitalen Welt mit anderen Geschäftsgrundlagen nachgingen. Standen doch keine antiken Philosophien im Vordergrund, so konnte die junge Generation ihre Sicht der Welt im Rahmen der Digitalisierung und Globalisierung mit gebotenem Abstand und im inspirierenden entspannenden Park austauschen. Dass auch soziale Aspekte nicht vergessen wurden zeigte die großzügige Unterstützung unseres Projektes 22stars in Uganda.
Weiter so - um mit der Inschrift der bronzenen Turmglocke zu enden - Fortuna virtutis comes - Das Glück ist mit den Tüchtigen !
* Hans v. Trotha lehnt sich bei seinen Überlegungen zu seiner Forderung (Kultur in Villen und Gärten erleben) im Rahmen des Corona Lockdowns an eine fast 700jährige Geschichte von Boccaccio an. Die heute sehr aktuelle Erzählung "Das Decamerone" berichtet von 10 jungen Leuten, die der Pest von Florenz in eine Landvilla der Toscana entfliehen. Um der Langeweile zu entgehen, halten 7 junge Frauen und 3 Männer 10 Tage lang Vorträgeüber die verschiedenen Formen der Liebe, die sich auch zeitkritisch mit den herrschenden Verhältnissen auseinandersetzen.
"Auch legten einige sich wirklich schlafen, andere aber verweilten zu ihrer Lust in dem schoenen Garten." -Das Dekamerone von Boccaccio, 5. Tag