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Beitrag zur Industriekultur Mittelhessen

Relikte der Technik

Blogeintrag geschrieben von Dr. Klaus F. Müller

Seine Interessengebiete sind u. a. Botanik, Technik und lokale Geschichte

Industrie und Design

Die Villa Haas und ihr Park sind weithin als noch intaktes Relikt gehobener bürgerlicher Lebenskultur aus der Zeit des Historismus bekannt. Doch was macht sie zu einem Standort der mittelhessischen Industriekultur?

Naheliegend ist die Wahl der Lage zur ehemaligen "Neuhoffungshütte" Haas & Sohn in Sinn. Auch bekannte Industriedesigner wie Peter Raacke und Franz Boeres oder die Architekten Fehling und Gogel u. a. waren an der Entwicklung der Produkte beteiligt. Sie haben mit ihren industriekulturellen Beiträgen zur Verbreitung Sinner Erzeugnisse in aller Welt beigetragen.

Architektur und Technik

Ein weiterer Aspekt ist das Werk des Architekten Ludwig Hofmann (1862-1933) in Sinn. Er machte sich nicht nur als Kirchenbaumeister einen Namen, sondern war auch an vielen Infrastruktur fördernden Projekten beteiligt. Dazu gehören z. B. Stationen der Vogelsbergbahn, die Bahnhöfe in Giessen und Herborn etc. Beim Bau der Villa Haas wurden viele technische Neuerungen eingeplant (Pariser Weltausstellungen), die in Bürgerhäusern unserer Region so noch nicht üblich waren. Dazu gehörten u. a. die Verwendung von Stahlbeton, Speiseaufzug, Zentralheizung mit elektrischer Nachtspeicherung, elektrische Pumpsysteme vom Hüttengraben an der Dill zur Parkbewässerung, Haussprechanlage, Telefon, Hummerbecken mit Kleinkompressor von Siemens-Schuckert zur Belüftung, fließend Wasser über Druckbehälter aus eigenen Wasserstollen. Waren die herrschaftlichen Bäder stilsicher noch mit englischer Importware (Twyford) ausgestattet, so stand auf den einfachen Waschbecken der Bediensteten "Made in Germany" (Kennzeichnungspflicht deutscher Ware durch das Vereinigte Königreich). Die Werkstattgrube in der Remise erhielt schon um 1910 als technische Neuerung zur Autowartung eine Abgasabsaugung.

Handwerk und industrielle Manufaktur

An der künstlerischen Ausstattung sieht man den Wandel des Schmiedehandwerkes im Übergang zur industriellen Massenproduktion. Dies zeigt sich z. B. an der Verwendung vorgefertigter Eisenteile und Gußprodukte. Sie haben sich bis heute an den gußeisernen Auffangkästen der Dachrinnen, Portale, Wasserspeiern, Wetterfahnen, an Treppen und Gittern von Geländern und Zäunen erhalten.​

Bergbau und Parkgesteine

Erwähnt werden muss, dass das Unternehmen bis zur Jahrhundertwende ein zweites Standbein mit über 168 Grubenstücken hatte. Die reiche Ausstattung der Parkanlage mit den verschiedenen Gesteinen der Gegend sind noch letzte Spuren des heimischen Bergbaus.

Zeitmessung

Auch an der mechanischen Turmuhr mit Glockenschlag von Perrot (Calw) erkennt man die fortschreitende technische Entwicklung anhand der nachträglichen Elektrifizierung - Zeitgebung ein Stück Industriegeschichte.

Selbstversorgung und Sicherheit

Nur noch zum Teil oder in Plänen erhalten sind die Vorkehrungen zur wirtschaftlichen Autonomie in Krisenzeiten. Sie reichen über einen Gutshof mit Ackerbau und Viehzucht, Tabakproduktion, Champignonzucht, Gartenbau bis hin zu Weinreben, Imkerei und Pferdehaltung.

Von den Kriegseinflüssen zeugt heute noch eine Bunkeranlage nördlich der Villa, die Zuflucht für die gesamte Belegschaft bot. Ein seitliche angelegtes Flak-Fundament diente der Abwehr von Luftangriffen.

Welthandel durch Kolonien

Während der Industrialisierung zur Kaiserzeit wurde es notwendig neue Absatzmärkte zu erschließen. Beispielhaft war die deutsche Kolonie Qindao in China. Oberstleutnant Retzlaff, ein Mitglied der Familie, war einer der letzen Kommandeure des kaiserlichen Infanterie Regimentes (1914). Das chinesische Teehaus geht auf ihn zurück und erinnert an die Kolonialzeit, die wie wir heute wissen ein erfolgloser Versuch war, sich auf diese Weise gegenüber den britischen Konkurrenten am Weltmarkt zu behaupten.